Verdun -
Überlegungen zum Genius Loci
  oder
Eine persönliche Gebrauchsanweisung für den Umgang mit dem problematischen "Kulturerbe"
von
Mirco Hölling






Verdun! Ein kleines, recht beschauliches Städtchen an den Ufern der Maas. Straßencafés, französisches Treiben, Kreisverkehr und sympathische Ungeordnetheit. Eigentlich ein netter Flecken Erde ohne Bedeutung, der höchstens für Durchreisende an die Côte d'Azur oder auf die iberische Halbinsel von Interesse ist.
Und doch....
Es haftet etwas an dem Namen, das selbst Menschen ohne Vorwissen oder mit der heutzutage üblichen Halbbildung immer noch erschauern läßt.
Verdun! Das klingt verstörend, martialisch, grausam und nach Tod!

"Was willst du bloß schon wieder in Verdun?" Den Satz kennt jeder, der wieder einmal in seiner spärlichen Freizeit die Wanderstiefel packt, den Helm entstaubt, um sich mit einer Fülle von Kartenmaterial und einem Magazin von Taschenlampenbatterien aufzumachen, einige Tage voller Mühsal und zumeist schlechtem Wetter an z.T. unwirtlichen unterirdischen Orten zu verbringen - und sich dabei nicht zuletzt erheblichen Gefahren ausetzt. Und dies alles freiwillig ...!

„Warum?" fragt der Außenstehende (und manchmal auch man selbst).
Was fasziniert den Menschen, ein nahezu 90 Jahre altes Schlachtfeld zu besuchen?

Geschichtliches Interesse? Sicher. Zumeist wird der Funke wohl aufgrund historischen Forschungseifers gezündet. Zweifellos gehört Verdun zu einem der prägendsten Orte des 20. Jahrhunderts. Er symbolisiert geradezu den Beginn einer neuen Epoche. Das 19. Jahrhundert hört mit Verdun auf zu existieren, nicht nur in Europa sondern auf der ganzen Welt. Alle Hoffnungen, all der naive Größenwahn, alles Schöne und Geordnete, all die alten, morschen Werte und Gesellschaftsstrukturen zerschmettern in den Gräben vor der Feste Vaux, verbrennen in den Kasematten vom Douaumont und werden verschüttet auf der Anhöhe Toter Mann. Sie werden nicht ausgetauscht oder abgelöst, sie werden zerfetzt wie die Leiber der Soldaten aller beteiligten Nationen.
Vor Verdun waren Fontane und Strauss, danach Kafka und Schönberg. Die "gute alte Zeit" war vorbei. Was folgte, waren die Irrungen und Wirrungen des 20. Jahrhunderts mit seinen Klassenkämpfen, "Totalen" Kriegen, Rassenvernichtungen, Straßenschlachten, Automatisierungen, Werteverlusten und der Globalisierung. Die Welt schaut danach immer weniger nach Europa und immer mehr nach Washington und Moskau.
Es gibt also ausreichend Grund und v.a. Nachholbedarf, sich mit Verdun auseinanderzusetzen. Zumal sich durch die Schrecken des 2. Weltkrieges die Geschichtsforschung eher diesem Ereignis und nicht dem Ursprung der modernen Geschichte zuwandte.

Aber ist es dies alleine? Forschungen über Verdun kann man auch aus der Ferne betreiben. Und welche historischen Erkenntnisse erlangt man bei der Begehung des Forts Souville?
Ist es Lust am Abenteuer? Natürlich spielt auch dieses mit bei der Entscheidung, Verdun ein weiteres mal  zu besuchen. Ein gewisser Nervenkitzel beim Abstieg in einen fast senkrechten, lichtlosen Stollen wird wohl selbst der erfahrenste Historiker oder Bauforscher nicht abstreiten können.
Aber warum dann nicht Naturhöhlen oder die Bunker des 2. Weltkriegs an der dänischen Küste (die zumal näher liegen)?
Der etwas angehobene Adrenalinspiegel kann nicht bestritten werden, gilt wohl aber nicht als ursächlich für die regelmäßige Besuche im benachbarten Ausland.

Ist es Betroffenheit? Auch hier mag ein Teil der Wahrheit verborgen liegen. Verdun macht betroffen! Und Menschen, die bislang mit dem 1. Weltkrieg nichts "am Hut" hatten, sind nach einem Besuch zumeist aufgewühlt vom Leid und Elend, vom allgegenwärtigen Tod und sinnlosen Opfergang einer ganzen Generation in der Blutmühle der nationalistischen Verblendung.
Doch reicht Betroffenheit, um als Katalysator für die beständige und intensive Aufarbeitung dieses Themas zu dienen?

Wenn all dies nicht die ausschlaggebenden Gründe sind, was ist es dann?

Verdun ist tiefes emotionales Erleben in seiner reinsten und schauerromantischsten Form.

Ein Bündel an Emotionen (inkl. der oben genannten) bewegt den Besucher, sobald er auch nur die Stadt betritt. Auch wenn die Stadtväter mit aller Macht versuchen, dem Ort ein freundliches und modernes Antlitz zu geben, wird er permanent und überall an die anderthalb Jahre erinnert, in denen Verdun ins Zentrum des Weltinteresses rückte. Tod und Verderben lauern noch überall. Nicht nur offenkundig in Form der allgegenwärtigen Soldatenfriedhöfe und der nahezu an jedem Straßenzug anzutreffenden Denkmäler und Erinnerungstafeln. Auch nicht allein durch die alles überragende Zitadelle, die wie ein Mahnmal Stadt und Umgebung beherrscht.
Nein, über Verdun und Umgebung liegt ein Schleier von Morbidität, die ihresgleichen auf der Welt sucht.
Nun gibt es ja durchaus auch andere Orte, denen ein solcher Schleier anhaften könnte. Warum ist er hier so ausgeprägt?
Dank einer sehr klugen und weitsichtigen Politik eines nahezu gesamten Jahrhunderts, auf der Basis einer kaum heilbaren, zernarbten Landschaft und einer umgepflügten Sozialstruktur (Stichwort: Verschollene Dörfer) wurde das Schlachtfeld fast unberührt belassen. Natürlich sind einige Orte mittlerweile zu Sammel- und Durchschleuspunkten für Busladungen voller Betroffenheitstouristen und Kriegsvoyeuren geworden. Auch Biker-Trails für die Unentwegten sind angelegt, die nun also mit Ihren bunten Trendrädern über die Gebeine unserer Vorväter radeln und Geschichte bei 20 Km/h erleben. Aber wer könnte das der Stadtverwaltung ernsthaft verübeln, wenn der "Markt" es so will?
Dafür sind etliche andere Landstriche nahezu unbelassen und nur durch forstwirtschaftliche Zwänge Veränderungen unterworfen. Bis vor wenigen Jahren konnte man hunderte von Metern lang auf dem Mort Homme alten Schützengräben folgen und noch eine Vielzahl von Unterständen entdecken. Gesäumt von etlichen Relikten der Vergangenheit: Granatsplitter, Blindgänger, Ausrüstungsstücke, Munition etc. (Fundstücke, die sich bei Militariasammlern und Marodeuren immer noch großer Beliebtheit erfreuen) - und nicht zuletzt fanden sich dort die Gebeine der Vermißten, die nach jedem Unwetter, jeder Bodenbewegung in unübersehbarer Anzahl wieder und wieder zum Vorschein kommen, als wollten sie ein Fanal gegen das Vergessen setzen! All dies in einem düsteren Laubwald, der die Atmosphäre stimmungsgerecht bestärkt. Man war nicht in einem Museum, man war auf dem Schlachtfeld! Mittendrin! Man war Beteiligter.
Läßt sich nicht eigentlich diese ursprüngliche, vom Krieg zernarbte Landschaft in ihrer rauhen Wirklichkeit eher abseits der ausgetretenen Pfade und jener versöhnlich stimmernden Parkfriedhöfe erfahren, welche in der Vergangenheit für halbherzige Friedensbekundungen und oberflächliche politische Rituale mehr als einmal herhalten mußten?

Hinzu kommt das sympathische Laisser-faire unserer Nachbarn, welches (in Deutschland völlig undenkbar) etliche Bauwerke nur mit dem lapidaren Hinweis: "Defense d'entrer! Danger!", nicht aber mit Schlössern oder Gittern "absperrte". Der geneigte Besucher konnte also selber entscheiden, ob er sich der (zweifellos erheblichen) Gefahr aussetzen wollte, welche von einsturzgefährdeten Gewölben, tiefen Senkschächten und chemischen Reststoffen ausging (und -geht).
Leider ist es in den letzten Jahren jedoch zu einigen "wirklichen" Schließungen gekommen, da eine Handvoll Extremsportler und Leichtsinniger offenbar unter grenzenloser Selbstüberschätzung litt und verunglückte. Wie so häufig müssen sich Viele der naiven Arglosigkeit Weniger anpassen (die unangenehme Clientel waffenbegeisterter und munitionslustiger Grenzgänger ist ein eigenes Kapitel).

Die Aura des Ortes geht jedoch auch von der Art der Bebauung aus. Die älteren, nach dem deutsch-französischen Krieg errichteten Panikforts, die alten, nahezu mittelalterlichen Burgen gleichkommenden, gewaltigen Festungen mit ihrem Bauschmuck stehen den modernen Betonwerken gegenüber. Hier treffen sich alte und neue Zeit auf wenigen Kilometern. All dies in einem Laubwald, den man fast als "verwunschen" bezeichnen möchte. Wer einmal erlebt hat, wie sich nach einem Waldmarsch plötzlich, noch halb vom Geäst verborgen, ein riesiger Beton- oder Kalksteinwall mit höhlenähnlichen, finsteren Öffnungen auftut, wird diesen Augenblick sicherlich niemals vergessen und ihn erstaunlicherweise immer wieder (wenn auch zusehends rationaler) neu erleben.
Dies, gepaart mit dem Wissen, was sich an den entsprechenden Orten seinerzeit zutrug, führt zu einer Form des Erlebens, welches tiefe Eindrücke hinterläßt. Den Schauder wird man ein Leben lang mit sich herumtragen.
Gleichzeitig birgt Verdun mit seinen Festungs- und Wehranlagen jedoch auch eine bizarre Form der romantischen Ästhetik. Bunker und Forts, die - z.T. durch Granateinwirkung zerstampft, z.T. durch den "Zahn der Zeit" zerfurcht - unter wildem Bewuchs verfallen, üben eine rein ästhetische Faszination aus. Hier ist nichts geschönt, künstlich erhalten oder gar durch pseudo-authentische Rekonstruktionen zu einem Disneyland der Marke "Gettysbourg" verkommen.

Desweiteren unterscheidet sich Verdun von anderen Orten der früheren Vergangenheit durch die zahlreichen Überlieferungen, Regimentsgeschichten, Memoiren und Erinnerungen Beteiligter. Wer sich ein wenig mit ihnen beschäftigt, für den wird die Geschichte lebendig. Das häufig so abstrakte Erleben bekommt hier Namen und Gesichter. Das Grauen geht dem aufmerksamen Betrachter unter die Haut, da es nachvollziehbar wird.
Gegenüber Orten der späteren Geschichte unterscheidet sich Verdun durch die Abgeschlossenheit des relativ engen Raumes und die Länge der Kampfhandlungen. In allen nachfolgenden Kriegen waren Raum und Zeit wesentlich leichter zu überwindende Hindernisse, als in diesem "Zwischen"-Krieg, der aufgrund technischer Beschränkungen noch nicht völlig modern war, aber durch den Einsatz der ersten Massenvernichtungswaffen auch kein "traditioneller" Krieg mehr sein konnte.

Der Besucher verspürt jene unheimliche, bedrückende Aura, vermeint, daß die Energien des Todes, der diesen unglücklichen Ort prägte, die Stätten millionenfachen Leides niemals wirklich verlassen haben und in den Trümmern der zerstampften Werke, im erstarrten Morast des Schlachtfeldes (heute Forêt national), ja in der Stadt selbst mit all ihren Mahnmalen weiterleben und sich für den aufnahmebereiten Besucher zu einem emotionalen Danse macabre verdichten, der abschreckt, ängstigt und gleichzeitig neugierig macht, da man nur an wenigen Orten dieser Erde so viel auf intellektueller und emotionaler Basis über den Menschen lernt wie hier.
Nicht nur der erste Besuch des Schlachtfeldes von Verdun endet, wenn man die unheilvollen Maashöhen hinter sich liegen weiß - auf der Landstraße bei Etain oder auf der Autobahn nach Metz - mit einem erlösenden Aufatmen!

Verdun dürfte in jedem Besucher einen tiefen, ehrlichen, jenseits aller political correctness liegenden Pazifismus begründen, sofern er bereit ist, sich auf die Tour de Force durch die Wälder des Schlachtfelds und die Untiefen der eigenen Emotionen einzulassen..  

Mirco Hölling


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