I.1
Einführung -
Historischer und landschaftlicher Kontext:
(1) Allgemeine Einführung:
Die Teltower Vorstadt nimmt unter allen Vorstädten
Potsdams in historischer, landschaftlicher und städtebaulicher Sicht
eine besondere Stellung ein. Als älteste Vorstadt 01
reicht ihre Geschichte rund 400 Jahre
zurück bis vor die Zeit der Residenzgründung unter dem Großen
Kurfürsten (um 1660). Ihre Entwicklung vollzog sich aufgrund der besonderen
Standortfaktoren seitdem mehr oder weniger kontinuierlich stets im Spannungsfeld
zwischen der naturräumlichen und kulturlandschaftlichen Verknüpfung
einerseits, der Dominanz gewerblicher und/oder staatlicher Flächennutzung
andererseits. Der hier untersuchte Stadtraum kann zusammenfassend aus gewerblicher
Sicht als idealtypische Vorstadt und exemplarisches Beispiel merkantilistisch-frühkapitalistischer
"Regionalplanung" gelten, weist andererseits eine besondere Dominanz topographischer
Einflüsse auf, die die städtebauliche und architektonische Entwicklung
unmittelbar bestimmt haben.
(2) Naturräumliche Einbindung und Kulturlandschaft:
(2.1) Topographie:
Die Topographie des südwestlichen Havellandes
ist unmittelbar durch die Eisrandlage während der letzten, sogenannten
Weichsel-Eiszeit (vor ca. 20.000 Jahren) geprägt und weist alle Strukturen
einer idealtypischen postglazialen Landschaft auf 02.
Es wirkt insbesondere der spannungsvolle Kontrast zwischen der ebenen,
größtenteils gefluteten Havelniederung, einem Nebenarm des großen
brandenburgischen Urstromtales, sowie den End- und Grundmoränen der
Havelhöhen. Unfruchtbare Sanderflächen am Moränenfuß
sowie ausgedehnte Feucht- und Moorgebiete in den Niederungen stehen den
fruchtbaren Moränenkuppen gegenüber. Die "Insel Potsdam" wird
als eine weite Senke im Haveltal in einiger Entfernung allseits durch flache,
langgestreckte End- und Grundmoränen umschlossen; alleine im Südosten
schiebt sich die doppelte Endmoräne des kleinen, kuppigen "Brauhausberges"
sowie des längeren, flachgeneigten "Telegraphenberges" bis unmittelbar
an den Fluß heran. Der Flußsee verengt sich an dieser Stelle
und mäandert in zwei Armen, der sog. "Neuen" und "Alten Fahrt". Eben
an dieser Stelle fließt das kleine Flüßchen Nuthe, sich
von Osten aus der Grundmoräne der Teltower Niederung (oder des
Teltow) nähernd, in die Havel, wobei es ehemals (vor mehreren baulichen
Eingriffen, s.u.) ein gewundenes Bett aufwies und ein mooriges Überschemmungsgebiet
im Bereich der heutigen Teltower Vorstadt und dem nördlichen Nowawes
bildete 03
. Diese topographische Besonderheit - die übrigen Vorstädte liegen
zumeist eben im Haveltal - bildet die Grundlage für das Spannungsfeld
der Teltower Vorstadt zwischen gewerblicher Nutzung der Niederung einerseits
und landschaftlicher Resourcen auf den Höhen andererseits: Der
visuelle Markpunkt (und die landwirtschaftlich günstigen Hänge)
der Moräne als Ausgang einer (2.2) kulturlandschaftlichen Orientierung,
die verkehrs- und energietechnischen Optionen am Zusammenfluß von
Nuthe und Havel, im Kontext mit der Ausrichtung nach Berlin, als Standortfaktoren
für die (3) gewerbliche Entwicklung. Beide Nutzungskonzepte
stehen vom Beginn der Residenzgründung an gleichwertig und parallel
nebeneinander, wobei die jeweilige Dominanz von Zeit zu Zeit wechselt.
(2.2) Kulturlandschaft:
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird (durch
den preussischen Hofstaat) die Potsdamer Peripherie als eine in sich geschlossene,
einheitliche Kulturlandschaft 04
verstanden und als solche einer übergeordneten Regionalplanung unterworfen.
Es ist damit der innige Kontext topographischer Grundstrukturen, historischer
Parkflächen und solitärer Bauten sowie der dominanten Stadtgebäude
und Verkehrsachsen bezeichnet, Komponenten eines Gesamtensembles also,
die seit jeher eigendynamisch in einer visuellen Beziehung stehen
bzw. künstlich in eine solche gesetzt wurden. Im Zeitalter der "Früh-,
Hoch- und Spätromantik" unter den Königen Friedrich Wilhelm III
(1797-1840) und Friedrich Wilhelm IV (1840-1861) kurz vor und zu Beginn
des 19. Jahrhunderts werden die in den letzten 100 Jahren entstandenen
Parkanlagen - und darüberhinaus die städtischen und ländlichen
Nutzflächen - zusehends als ein Ensemble verstanden, das in erster
Linie aus der günstigen Topographie resultiert. Waren im Barock -
auch noch in der Zeit des eklektizistischen und historisierenden Friedrich
II die Sichtbeziehungen in erster Linie auf die unnatürlichen,
gekünstelten Parkebenen bezogen, wurde nunmehr die gesamte Potsdamer
Peripherie mit ihren Höhen und Seeufern in das Gesamtkonzept einbezogen.
Das Streben nach einem "Preussischen Arkadien", die Idee, ein "großes
Gesamtbild" 05
zu errichten, ist die Motivation jener "Epoche der Empfindsamkeit" und
findet ihren späten Höhepunkt im sogenannten "Verschönerungsplan"
von 1833: Hier faßt der große Gartenbaumeister Lenné
sämtliche bestehenden Anlagen durch eine System von Alleen und Blickschneisen
zu einer innigen Einheit zusammen. Bauten und Parks des hohen und späten
19. Jahrhunderts werden sich in dieses Konzept weitgehend einfügen.
Die Dominanz liegt stets auf achsialen Wegen oder auch nur Blickschneisen,
die sich zumeist zwischen zwei markanten Orientierungspunkten auf den Höhen,
den sogenannten Belvederes 06
, oder erhabenen Markpunkten in der Ebene (Kirchtürme und Schloßkuppeln)
entfalten Es mag dabei die jüngst errichtete Telegraphenstation auf
dem Brauhausberg, der optische Zeiger von 1832, als letzter Katalysator
für die Bewußtwerdung der landschaftsplanerischen Möglichkeiten
gedient haben (s.u.) und steht sicherlich als "Icon" für die Systematik
der visuellen Verknüpfungen 07
. Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Ensemble - soweit nicht bestehende
Funktionsbereiche wie Gewerbe- und Verkehrsflächen (dies gilt
besonders für die Teltower Vorstadt) dem entgegenstehen - weitgehend
geschlossen , so daß die Markpunkte im Stadtgebiet, die Hauptparks
von Sanssouci und dem Neuen Garten, die Grünflächen auf dem östlichen
Havelufer (Glienicke und Babelsberg) bis hin zum weit entfenten Sacrow
und den Latifundien (ehemals gewerblichen Krongütern) von Bornim und
Bornstedt als eine einzige zusammenhängende Kulturlandschaft bestehen.
Wenn die Potsdamer Peripherie seit gut einem
Jahrzehnt als "Weltkulturerbe" gilt, so ist damit in erster Linie das spannungsvolle
Gesamtensemble gemeint, in welchem Architektur, Städtebau und Gartenplanung
auf der Basis einer vorteilhaften Topographie eine untrennbare Einheit
bilden; hier sind Kultur - und Naturlandschaft zu einem Begriff verschmolzen!
08
Die bewaldete Doppelmoräne von Brauhaus-
und Telegraphenberg mit ihrem Belvedere von 1803 stellt einen wichtigen
Teil dieses Systemes dar, wird aber im 19. Jahrhundert zusehends eingeengt
zwischen den Gewerbebetrieben der Teltower Vorstadt liegen und zum Jahrhundertende
mit staatlichen Großbauten versehen, die sich mehr oder weniger glücklich
in die visuelle Verknüpfung fügen; der Widerspruch zwischen Landschaft
und Erholung (auf den Braushausberg-Terrassen) einerseits und Verkehr,
Verwaltung und Gewerbe rund um das Leipziger Dreieck andererseits wird
bis in die Gegenwart andauern.
Die Dominanz der weiträumigen könglichen
Gartenanlagen auf dem westlichen Havelufer , v.a. die Bedeutung des Schloßparks
von Sanssouci, läßt heute zumeist vergessen, daß die erste
bewußte Sichtachse eben diejenige zwischen dem Potsdamer Stadtschloß
(dieses ab 1660 westlich der Langen Brücke anstelle der alten Burg
errichtet, Ruine nach dem 2. Weltkrieg abgetragen) und dem hervorragenden
Brauhausberg war 09
, der damals als königlicher Weinberg bewirtschaftet wurde. Vor Ausbau
der Teltower Vorstadt zum wichtigsten Gewerbebereich Potsdams (unter merkantilistischen
Erwägungen vorwiegend in friderizianischer Zeit) lag die Dominanz
dieser Gegend somit gerade auf dem landschaftlichen (und landwirtschaftlichen)
Kontext, wie insbesondere aus Bauzeichungen und Entwurfsplanungen
während des zweiten Umbaues des Potsdamers Stadtschlosses hervorgeht
- So wurde der französisch angelegten Park an der Havel ausdrücklich
zum Brauhausberg orientiert und mit mehreren Pavillons in diese Richtung
versehen. Ob die Ausführung der geplanten monumentalen Kaskade auf
dem Brauhausberg, als Mark - und Höhepunkt der visuellen Hauptachse
vorgesehen, überhaupt begonnen wurde, ist allerdings fraglich; die
Bauzeichungen dieser Anlage belegen jedenfalls den herausragenden Status
der Moräne als Teil des naturräumlichen Ensembles 010.
Es kann somit paradoxerweise dieser Bereich der im weiteren vielmehr
durch Gewerbe dominiertenTeltower Vorstadt als Urzelle jenes kulturlandschaftlichen
Ensembles gesehen werden, das später so eifrig vorangetrieben wurde
und heute eines "Weltkulturerbes" würdig erscheint.
In diesem Zusammenhang wirkt auch das Belvedere
auf dem Brauhausberg aufschlußreich, welches, 1803 von Friedrich
Wilhelm III für seine Königin Luise als einfacher Aussichtsturm
errichtet, als erstes Sichtzeichen in der Topographie bezeichnet werden
kann. Wurden schon in friderizianischer Zeit auf den nördlichen Hängen
von Sanssouci das Klausberg-Belvedere und das Drachenhaus angelegt, waren
diese doch noch ganz auf die Parkfläche selbst bezogen - Nun findet
sich aber erstmals ein Markpunkt, der ausdrücklich die topographische
Situation berücksichtigt und Teil des Ensembles von Stadt und Umland
ist 011
.
Infolge dieser Erwägungen - und im Einklang
mit dem "Verschönerungsplan" - sind auch die Havelspeicher am Nordwesthang
des Brauhausberges zu verstehen, die Mitte des 19. Jahrhunderts von hervorragenden
Architekten (u.a. Schinkel und Persius) im "romantischen Burgenstil" angelegt
oder umgebaut werden - um das Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen,
mehr noch: um als zusätzliche Markpunkte zu dienen, die nunmehr als
"bildwürdig" erscheinen, wie aus der Vielzahl zeitgenössischer
Stiche hervorgeht 012
.
(3) Faktoren gewerblicher Entwicklung 013:
Parallel zum Status des Natur- und Landschaftsraumes
vollzieht sich in der Teltower Vorstadt eine intensive Entwicklung gewerblicher
Nutzflächen und/oder staatlicher Großbauten, die aufgrund spezifischer
Standortfaktoren bis heute kontinuierlich andauert. Es weist dabei v.a.
das 18. Jahrhundert einen erheblichen Entwicklungsschub wirtschaftlicher
und staatlich/militärischer Flächennutzung auf, der exemplarisch
für die Bestrebungen des Merkantilismus und Frühkapitalismus
steht.
Es muß in diesem Zusammenhang kurz auf
die sozialökonomische Komponente von Städtebau und "Regionalplanung"
in dieser Epoche eingegangen werden: Denn damals vollzog sich die Ansiedlung
von Industrieflächen bzw. arbeits- und raumintensiven sowie emissionsreichen
Betrieben nicht im Mauerkranz der zumeist bis an die Grenzen ihrer Kapazität
bebauten Städte. Die Stadt war noch bis in das frühe 19. Jahrhundert
hinein dem Handel und Einzelhandwerk vorbehalten. Die industrielle Entwicklung
dagegen vollzog sich (in frühkapitalistischen Anfängen bereits
in der Renaissance) auf den Kron - und Adelsgütern, in einem ungleich
günstigeren topographischen, sozialen und baulichen Umfeld - das uns,
zumeist gut erhalten, heute als "idyllisch" erscheint, damals jedoch "boomende"
Industrielandschaft darstellte! Die Gründe liegen auf der Hand:
(1, über allem:) Energieversorgung durch
Wasserkraft (wichtigster Standortfaktor: Die Anlage von Wassermühlen,
zumeist als Hammer-und Mahlmühlen) und/oder Rohstoffvorkommen (z.B.
Holzkohle in waldreichen, Torf in moorigen Gebieten), (2) Rohstoffe landwirtschaftlicher
Nutzflächen (v.a.in der Textilverarbeitung), (3) Freiraumresourcen,
ungenutzte Bauten (z.B. unbewohnbare Burgen) und Entsorgung (Wasserläufe
als Abflußrinnen), (4) Arbeitskräfte durch landwirtschaftliche
Rationalisierung und/oder das "Legen" von Bauernstellen (zudem kostenminimal,
da ohne Ausbildung), (5) Infrastruktur: Transport über (früher:)
Wasser- und (später:) Fernstraßen (Chausseen des späten
18. und frühen 19. Jahrunderts).
Für die Teltower Vorstadt gelten mehrere
dieser Faktoren beinahe ideal:
Am Zusammenfluß von Nuthe und Havel gelegen,
werden nordöstlich des Brauhausberges die Kai- und Speicheranlagen
014
des wichtigen Wasserweges sowie entlang der Havelbucht verschiedene Gewerbebetriebe
015
(z.B. die emissionsreiche Lohgerberei) angeordnet, die schmalere und schneller
fließende Nuthe (durch Kanalisierungen später gleichsam schiffbar)
bietet sich für die Anlage verschiedener Mühlen und weiterer
Industriebetriebe an 016
. Mitten durch die Vorstadt verläuft mit der "Königsstraße"
die bis in das 19. Jahrhundert wichtigste Chausseeverbindung über
Zehlendorf nach Berlin, später als Orientierung der Eisenbahntrasse
gewählt. Die Lange Brücke 017
(inzwischen in 5. Ausfertigung, seit dem 14. Jhdt. erwähnt,
urkundlich erstmals 1416 als Holzkonstruktion nachgewiesen und seit den
60er Jahren des 17. Jahrhunderts (Residenzgründung) in Stein ausgeführt)
war und ist der Haupt-Übergang zwischen der "Insel Potsdam" und dem
Teltow. Dem sogenannten "Leipziger Dreieck", dem verkehrsintensiven Kreuzungspunkt
zwischen Langer Brücke und Königsstraße, wird bald auch
selbstverständlich der Hauptbahnhof zugeordnet (der allerdings vorerst
wenige Impulse für die weitere Stadtentwicklung bringt, s.u.); es
stellt bis heute den wichtigsten Verkehrsknoten auf dem östlichen
Havelufer dar.
Umfangreiche Freiraumresourcen im königlichen
Besitz dienen zumeist als militärische Flächen (Exerzierplätze)
oder der landwirtschaftlichen Nutzung (z.B. Maulbeerplantagen und Weinberg).
Gerade die Maulbeerplantagen 018
stellen einen typischen Baustein jener merkantilistischen Wirtschafts(re)form,
liefert sie doch - im Ersatz aufwendiger Importe aus Fernost - den Rohstoff
für die königlichen Seidenmanufakturen mit dem Beweggrund von
Rationalisierung und Kostenminimierung (daß sich dabei auch die Qualität
der Produkte minimiert, zieht sich durch alle Gewerbebereiche jener Epoche!).
Plantagen - und Exerzierflächen werden seit Anfang des 19. Jahrhunderts
für die Anlage kommunaler und staatlicher Großbauten (Kadettenanstalt,
Wilhelmstift) wie Sonderflächen (Alter+Neuer Friedhof) freigegeben.
Interessanterweise werden die bewaldeten Moränenhöhen
niemals dem Gewerbe geopfert. Sie verbleiben dem Kontext "gehobener" Nutzung
und werden schließlich durch staatliche Prestigebauten (Kriegsschule)
und das Ensemble naturwissenschaftlicher Institute (heute "Wissenschaftspark
Alber-Einstein") bebaut.
(3.1) Merkantilismus und Frühkapitalismus
019
:
Es seien an dieser Stelle der Begriff des Merkantilismus
(mit seinen frühkapitalistischen Prägungen) kurz erläutert,
da dieser - im Kontext mit den topographischen und verkehrstechnischen
Vorzügen - letztlich den Katalysator für die vorrangige Entwicklung
der Teltower Vorstadt hatte: Der Merkantilismus ist selbstverständliches
Resultat der zentralistischen Bestrebungen absolutistisch regierter Flächstaaten
und Duodez-Fürstentümern: Nicht zuletzt aus politischen Erwägungen
in direkter Konkurrenz zu den Ständen, Zünften und
Gilden (in ihren zweifellos komplizierten Rechtsverhältnissen) wurden
Handel und Gewerbe in einer strikten Hierarchie straff zentralistisch organisiert,
wobei dem Fürsten - neben seiner autoritären Machtausübung!
- sämtliche Organisationen des Staates zur Verfügung standen:
Nutzung und Ergänzung der Infrastruktur, Trockenlegung von Feuchtland,
Kanalisierung von Flüssen, Anlage von Chausseen und Speichern, Vorhaltung
von Freiflächen und Energienanlagen, Errichtung (Verpachtung und Schenkung)
von Manufakturen, Anlage von spezifischen Stadtvierteln für die Arbeitnehmer
- Aus dem Zusammenwirken sämtlicher Institutionen und Maßnahmen
läßt sich zum ersten Mal eine echte "Stadt- und Regionalplanung"
bewerkstelligen.
Die straffe Rationalisierung und Spezialisierung
hat rasch (zumeist negative) Konsequenzen für die Jahrhunderte alte
Sozialstruktur im Stadt- und Landraum: In teilweise riesigen Gewerbebetrieben
arbeiten bis zu mehrere Hundert (in England auch tausende) von schlecht
bzw. unausgebildeten Arbeitern, losgelöst aus handwerklicher Arbeitstradition,
Scholle und Familie die "Soziale Frage" (nicht erst im 19. Jahrhundert!)
begründend. Das Waisenhaus in Potsdam 020
stellt einen idealtypischen Ausbeuterbetrieb jener Tage dar, indem - unter
dem fadenscheinigen Vorwand sozialer Sicherheit - hunderte von Waisen,
zumeist Kinder und Jugendliche unter menschenunwürdigen Bedigungen
an landwirtschaftliche und gewerbliche Betriebe vermietet werden, was eigentlich
einem Sklavendienst gleichkommt (in Übersee füllen "echte" Sklaven
die Taschen der adligen Unternehmer, die sich ihrerseits "schöngeistig"
an Philosophie und Literatur berauschen); die Überlebenden dieses
Systemes können sich stets eines Platzes in der königlichen Armee
"sicher" sein.
Die Betriebe unterstehen dem Fürsten, werden
jedoch zumeist an Großunternehmer verpachtet oder verschenkt, welche
(im günstigen Falle) Know-How und/oder Kapital einbringen und im Gegenzug
mit Privilegien ausgestattet werden, so daß eine weitreichende Monopolwirtschaft
resultiert. Fürst und Unternehmer sind voneinander abhängig -
sorgt dieser durch Know-How und Kapital für den ordnungsgmäßen
und profitablen Ablauf einer Unternehmung, garantiert jener die Vorrechte
und organisiert die Infrastruktur (es hat jedoch gerade König Friedrich
II kein "glückliches Händchen" diesbzüglich, wie exemplarisch
der mehrfache Besitzerwechsel der Englischen oder Itzigschen Lohgerberei
(s.u.), die häufige Verpachtung oder Schenkung gewerblicher Betriebe
an Günstlinge bzw. verdiente Personen des öffentlichen Lebens,
oder der Fortgang des Großunternehmers H.C. Schimmelmann aufzeigen)
021
.
Nach ihrem "Boom" im 18. Jahrhundert kann sich
die Teltower Vorstadt im 19. Jahrhundert aufgrund gesellschaftlicher und
ökonomischer Veränderungen sowie und v.a. der Dominanz der Residenzstadt
Potsdam als reine Garnisions- und Verwaltungsmetropole 022
nur noch eingeschränkt entfalten (s.u.: Chronologie 3 / 4). Nun soll
in Anlehnung an den Verschönerungsplan (und im Blickfeld der Hofgesellschaft)
eine industrialisierte Zone möglichst vermieden werden 023
, wie gleichsam das heterogene Quartier die umfangreiche Beamtenschaft
(überwiegend gehobener Bevölkerungsschichten) als Wohnviertel
wenig verlockt und sich entsprechend wenig (nunmehr private) Investoren
für Wohnbaumaßnahmen finden 024
. Der Gewerbe- und Siedlungsbau stagniert bis zur Jahrhundertwende,
während solitäre Großbauten und Sonderflächen durch
Militär, Staat und Kommune laufend ergänzt werden.
Erst nach 1900 entfaltet sich - durch die zunehmende
Einflußnahme von Bauvereinen und Genossenschaften - eine umfangreiche
Siedlungsbebauung im südlichen Freiland (ehemals Militärgelände)
sowie - gerade auch in jüngster Zeit - das Gewerbe aufgrund der günstigen
Verkehrssituation.
(4) Fazit: Auswirkungen der Standortfaktoren
auf die städtebauliche Entwicklung:
Aufgrund der genannten Standortfaktoren
lassen sich die Maßnahmen der Stadt- und Regionalplanung für
die Teltower Vorstadt im folgenden zusammenfassen:
(4.1) Bauten:
- Verkehrsbauten (inkl. Urbarmachung): Wasserwege,
Landstraßen und Bahntrassen.
- Solitäre Großbauten der militärischen
und zivilen Verwaltung, wissenschaftlicher und sozialer Einrichtungen,
bis heute mehr oder weniger kontinuierlich entwickelt und genutzt.
- Gewerbe- und Industriebauten mit Bedarf an
großen Flächen, günstiger Verkehrsanbindung sowie
an Ver-und Entsorgung (Dominanz der Wasserflächen).
- Mehr oder weniger planmäßig angelegte
Wohn- und Siedlungsbauten vorwiegend niedrigen Standards,
ursprünglich im Kontext mit ortsansässigen
Gewerbebetrieben, Verwaltung und Militär.
(4.2) Landschaftsplanung
- "Erholung und Freizeit", ursprünglich
der Hofgesellschaft vorbehalten.
- Landwirtschaftliche Flächen im Besitz
des Königs (Maulbeerplantagen/Weinreben).
- Bereiche öffentlicher und besonderer Nutzung,
zumeist aus Kronland bzw. Militärflächen hervorgegangen
(Friedhöfe, Wissenschaftspark).
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